Fremdschämen: der soziale Phantomschmerz

Der Begriff hat Karriere gemacht: Zusammen mit „Hüftgold“ und „Komasaufen“ wurde „Fremdschämen“ 2009 in den Duden aufgenommen. Ganze TV-Formate leben von der Lust am Fremdscham-Grusel. Was passiert mit uns, wenn uns etwas peinlich ist, das eigentlich anderen peinlich sein sollte, peinlicherweise denen aber gar nicht peinlich ist? Eine These: Fremdschämen ist ein sozialer Phantomschmerz. Ein Abend voller Pein und Humor. Psychologie und Hirnforschung leisten Erste Hilfe.

Mit Sandra Trauner und Michael Hefele.

Termin:
Freitag, 20.Januar 2012
Ort:
Venusberg Bar, Uhlandstraße 21, 60314 Frankfurt
Bild: © by Andrea Reiser

Bilder des Abends in der Galerie.

„Fremdschämen – der soziale Phantomschmerz“

Videos

Aua, Herr Oettinger spricht Englisch

http://www.youtube.com/watch?v=HG20YJE_ibw&feature=related

Ein schmerzhafter Castingshow-Kandidat

http://www.youtube.com/watch?v=f6CSr-WbcVE

Offizieller „Borat“-Filmtrailer

http://www.youtube.com/watch?v=4_I3tIjztj8&feature=results_video&playnext=1&list=PL1615B62E1F0044B7

Stromberg hat nichts gegen Randgruppen

http://www.youtube.com/watch?v=q63PrEyk5zw

Musik

Jan Delay: Überdosis Fremdscham

http://www.youtube.com/watch?v=8g8LtGqDYBI

Pigor: Fremdschämen im Mai

http://www.youtube.com/watch?v=B8FwrkN17Ts

Fremdschämen – ein Modewort?

Als Begriff in den Medien präsent (Wulff, „ein Präsident zum Fremdschämen“)

Phänomen wird analysiert (Dossier in der „Zeit“, Wissenschaftsteil  in der „FAS“)

In den Duden aufgenommen 2009

Definition:  „sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen“

In Österreich 2010 zum „Wort des Jahres“ gewählt

Erste Erwähnung bei RS Miller 1987 in sozialpsychologischer Zeitschrift

Studie der Uni Marburg (Sören Krach und Frieder Paulus)

http://www.plosone.org/article/info:doi/10.1371/journal.pone.0018675

Klassifizierung verschiedener Fremdscham-Situationen nach den Fragen

–          Handelt diese Person bewusst so?

–          Wird ihr die Peinlichkeit dessen bewusst?

Ausgewählte Ergebnisse:

Je mehr Absicht (des Handelns) und je weniger Bewusstheit (der Peinlichkeit), desto mehr fremdschämen sich die Menschen.

Wer generell als empathischer eingestuft wurde, schämte sich auch mehr fremd. Fremdscham als eine Form von Empathie

Aktiv waren die selben Gehirnbereiche, die auch bei Schmerz aktiv sind („Fremdschämen tut weh“)

Gehirn macht keinen Unterschied, ob man annimmt, dass das peinliche Verhalten dem Beobachteten peinlich ist oder nicht

Fremdschämer sieht peinliche Situation gleichzeitig außen (als Beobachter) und von innen (durch Hineinversetzen)

Ein paradoxes Gefühl zwischen Identifikation und Distanzierung, zwischen Mitleid und Schadenfreude 

Fremd-„Scham“?

Scham…

bedroht das Selbstbild, die eigene Identität

wird ausgelöst durch Verletzung der Intimsphäre, aber auch durch soziales Versagen

die Gesellschaft benutzt Scham, um  uns zu zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen

ein schmerzhafter Zustand, der zugleich eine Schutzfunktion hat

Peinlichkeit: schwächeres Gefühl, das im Gegensatz zur Scham nicht das Selbstbild bedroht

  • Es müsste eher Fremd-„Peinlichkeit“ heißen 

Wieso hat der Begriff gerade so Konjunktur?

These 1 : die neue Unübersichtlichkeit

Früher gab es verbindliche Verhaltens-, Kommunikations-, oder Kleidernormen, die für alle galten. Heute gibt es eine unüberschaubare Vielzahl von ungeschriebenen Regeln.

These 2:  der neue Exhibitionismus

Früher litt man heroisch und vor allem heimlich. Heute stellt man seine Qual gern öffentlich zur Schau und stellt auch das peinlichste Erlebnis freiwillig in facebook ein

Welche Funktion erfüllt Fremdschämen?

These 1:  „Mann ist der peinlich – könnte mir ja nie passieren!“

Funktioniert als gesellschaftliche Abgrenzung „nach unten“  – Fremdscham als Arroganz?

Kann auch Lustgewinn sein („Konträrfaszination“) – Fremscham als Schadenfreude?

These 2:   „Oh Gott ist das peinlich – das könnte mir auch passieren!“

Ist ein Gradmesser für das emotionale Beteiligt-Sein – Fremdscham als Mitleid?

Kompensation der Angst, selbst peinlich zu sein, abgelehnt zu werden –  Fremdscham gemeinschafts-stiftend  und identitäts-fördernd?